Die Reise der Verlorenen - Stückeinführung 19.15 Uhr

Dokumentartheater von Daniel Kehlmann, basierend auf einer wahren Geschichte

Im Jahr 1939 gehen 937 Juden in Hamburg an Bord der St. Louis. Sie wollen nach Kuba und von dort weiter in die USA oder andere Länder. Doch der kubanische Präsident verbietet die Einreise. Die Menschen dürfen das Schiff nicht verlassen. Die HAPAG in Hamburg protestiert. Immerhin wurden horrende Summen für Landegenehmigungen gezahlt. Die erweisen sich nun als illegal und wertlos. Die St. Louis muss den Hafen verlassen. Kapitän Gustav Schröder kämpft um seine Passagiere. Doch auch Amerika und Kanada verwehren die Einreise. Niemand auf der Welt will die jüdischen Flüchtlinge haben. Die St. Louis wird nach Hamburg zurückbeordert. Erst als Schröder gegen seine Kapitänsehre erwägt, das Schiff vor Sussex auf Grund laufen zu lassen, kommt Hilfe: Einige europäische Länder bieten jeweils einer bestimmten Quote von Juden Zuflucht. Aber Nazi-Deutschland überzieht den Kontinent mit Terror und Krieg. Die Reise der Verlorenen geht weiter.

Die Irrfahrt der St. Louis ist historisch verbürgt. Daniel Kehlmann bringt die Handlung in zeitübergreifender Fiktion auf die Bühne. Die aktuellen Fluchtdramen erwähnt er mit keiner Silbe. Und dennoch hat man als Zuschauer auch diese Bilder permanent vor Augen. Die Figuren treten aus dem Dialog, reflektieren ihren Charakter und verraten ihre Gedanken. Sie spielen mit dem Wissen um ihr Ende. Für die meisten ist es ein schreckliches.

Im November 2018 traf sich der kanadische Premier Justin Trudeau mit einer der Überlebenden der St. Louis. “Die Zeit hat Kanada nicht von seiner Schuld freigesprochen oder das Gewicht der Schande gemindert“, sagte er im Anschluss. Die Entschuldigung seines Landes sei „lange überfällig“.

theaterlust / Altonaer Theater Hamburg

Kritiken

Kritik aus der Borkener Zeitung vom 11.02.2023

Gelungenes Dokumentar-Theater in der Stadthalle
Darsteller ziehen Zuschauer in ihr Stück

Von Dorothea Nattefort

Borken. Dokumentarisches Theater, das ein historisches Ereignis faktengetreu auf die Bühne bringen will, kann ab und an ziemlich sperrig daherkommen. Aller guter aufklärerischer Absicht zum Trotz. Das Borkener Publikum darf in dieser Woche in der Stadthalle jedoch ein Stück in Kooperation des Altonaer Theaters mit der Produktion Theaterlust verfolgen, bei dem das Kunststück gelingt. "Die Reise der Verlorenen" lautet der Titel.

Den Darstellern gelingt es, historisch verbürgte politische Machenschaften zu zeigen und dabei in sehr pointierten Dialogen menschliche Verzweiflung und verabscheuungswürdige moralische Untiefen zu bleuchten. Die Handlung ist vielleicht schon aus Verfilmungen bekannt: 1939 gehen 937 Juden in Hamburg an Bord der St. Louis. Sie wollen über Kuba in die USA einreisen und so dem Nazi-Regime entkommen. Sie sind für die Schiffspassage wirtschaftlich ausgeplündert worden. Aber dann wird dem Schiff überall verwehrt, diese jüdischen Passagiere an Land gehen zu lassen. Kein Land will die Flüchtlinge aufnehmen. Ein Umstand, der dem Goebbelschen Propagandaministerium sehr gelegen kommt und zeigt, dass gerade auch verknüpft mit korrupten Machenschaften der Krakenarm der Nationalsozialisten überall hin reicht. Das Schiff irrt umher, die Rückkehr nach Deutschland würde den Tod der jüdischen Passagiere bedeuten.

Das Schauspiel bricht in der Inszenierung der Truppe von "Theaterlust", mit den filmisch geprägten Sehgewohnheiten des Publikums. Die Figuren treten aus ihrer Rolle heraus, sprechen das Publikum direkt an, reflektieren den eigenen Charakter, greifen der Handlung vor und berichten von ihrem Ende. Diese Darstellungsweise verlangt dem Publikum einiges ab. Das Schauspiel reicht über die Einfühlung in das Stück hinaus, der Zuschauer wird zur Reflektion angeregt und schafft das Stück mit.

Das variable Bühnenbild trägt zur ungeheuer dichten Atmosphäre bei. Wände werden verschoben. Mal zu einem Schiffsbug zusammengeführt, mal werden Originalaufnahmen auf die Wände projiziert, mal erlauben die Wände den Blick auf die rollende See oder die montonen Bewegungen der Menschen an Bord. Die intensive audiovisuelle Gestaltung führt mit der temporeichen Handlung zu einer Amosphäre von intensiver, beklemmender Bedrohung. Die Rollen sind mehrfach besetzt und das Publikum erlebt den blitzschnellen, gelungenen Wechsel zur Darstellung eines anderen Charakters.

Natürlich drängen sich dem Betrachter ständig die Bilder von den Fluchtbewegungen der Gegenwart über das Mittelmeer auf. Aber das Stück tappt nicht in die Falle, eine platte Aktualisierung anzubieten. Das Schicksal der von den Nationalsozialisten verfolgten Jüdinnen und Juden im Dritten Reich bleibt in seiner abstoßendem Inhumanität singulär, wenn gezeigt wird, wie ein jüdischer Mann, der dem KZ Dachau entkommen ist, selbst an Bord von Nazis drangsaliert und gedemütigt wird. Die Parallelen entstehen im Kopf des Betrachts. Das Publikum fühlt sich von der modernen Inszenierung keineswegs überfordert, sondern würdigt die packende Inszenierung und die große schauspielerische Leistung mit lang anhaltendem Applaus.